DEUTSCHE GESELLSCHAFT FÜR PSYCHOLOGISCHE SCHMERZTHERAPIE UND -FORSCHUNG E.V.

SCHMERZ UND GESCHLECHT

Eine bisher wenig beachtete und wissenschaftlich erst in den letzten Jahren in den Vordergrund gerückte Frage ist der Zusammenhang von Schmerz und Geschlecht. Wenig Uneinigkeit besteht bei der Annahme, dass Frauen und Männer generell unterschiedlich Schmerzen äußern und sie wahrscheinlich auch unterschiedlich empfinden. Allerdings sind die Meinungen geteilt, wie diese Unterschiede zu erklären sind. So wird häufig vermutet, dass Männer weniger schmerzempfindlich seien; Schmerzäußerungen werden in vielen Kulturen als Zeichen von Schwäche erachten und dementsprechend zielt die Erziehung darauf ab, dass Männer ihre Schmerzen unterdrücken, während Frauen dazu ermutigt würden, ihre Gefühle zu äußern und auch Schmerzen mitzuteilen. Darüber hinaus besteht bei Männern entwicklungsgeschichtlich auch ein direkter Überlebensvorteil („der Mann als Jäger“), wenn Schmerzen in bestimmten Situationen weniger stark empfunden werden. Dies würde bedeuten, dass Männer auch biologisch schmerzunempfindlicher sind als Frauen. Andererseits wird häufig im Volksmund behauptet, dass Männer „wehleidiger“ seien als Frauen und die Menschheit schon längst ausgestorben sei, wenn die Fortpflanzung davon abhinge, dass Männer Kinder bekommen und den Geburtsschmerz ertragen müssten. Diese widersprüchlichen Eindrücke werden auch heute noch durch wenige handfeste Beweise mal unterstützt oder mal widerlegt. Dennoch gibt es neue Erkenntnisse, die zeigen, dass das Geschlecht eine Rolle beim Empfinden von Schmerzen, dem Auftreten von Schmerzerkrankungen, dem Verlauf von Schmerzen und wahrscheinlich auch beim Therapieerfolg von Schmerzen spielt.

Eindeutig sind Ergebnisse zur Häufigkeit von Schmerzen bei beiden Geschlechtern; Frauen scheinen z.B. generell mehr unter Schmerzen zu leiden als Männer. Dies betrifft (fast!) alle Arten von Schmerzen wie z.B. Kopfschmerzen, Migräne und verschiedenste Formen von Schmerzen mit Muskel- Gelenk- und Knochenbeteiligung. Ebenso berichten Frauen über intensivere und länger andauernde Schmerzen und geben mehr von Schmerz betroffene Körperbereiche an, wenn sie an einer schmerzhaften Erkrankung leiden. Das Alter wie auch soziale und psychische Faktoren spielen dabei eine begleitende Rolle, sind aber nicht maßgeblich für die Unterschiede verantwortlich; so sind Geschlechterunterschiede bei der Migräne deutlich häufiger im Alter zwischen 20 und 45 Jahren zu finden, treten aber auch (nur nicht in gleichem Ausmaß) in allen anderen Altersgruppen auf.

Auch in den meisten experimentellen Untersuchungen waren Frauen deutlich schmerzempfindlicher. Dies bedeutet, dass Frauen z.B. beim Verabreichen eines Schmerzreizes (z.B. durch einen Hitze- oder Druckreiz) die Schmerzintensität höher einschätzen als Männer oder den Schmerz weniger lange tolerieren und so z.B. den Arm früher wegzogen. Ebenfalls scheinen Frauen eine geringere Schwelle für schmerzhafte Reize zu haben als Männer, so dass sie einen weniger starken Reiz schon als schmerzhaft empfinden, während Männer stärkere Reize zuließen. Diese meist experimentell an gesunden Versuchpersonen erhobenen Daten weisen darauf hin, dass möglicherweise das Nervensystem von Frauen und Männern unterschiedlich arbeitet  und somit die Schmerz-“Sensoren“, also die Nervenfasern, die Schmerzreize aufnehmen und an das Rückenmark weiterleiten sollen, bei Frauen auf „empfindlicher“ geschaltet sind. Weitere Erkenntnisse beziehen sich auf die Schmerzverarbeitung im zentralen Nervensystem, also im Rückenmark und im Gehirn. So scheint auch die zentrale Schmerzverarbeitung, die u.a. wichtig für Prozesse wie z.B. Schmerzchronifizierung ist, bei Frauen deutlich empfindlicher zu sein.

Frauen entwickeln also nicht nur eine deutlich schnellere und verstärkte Schmerzüberempfindlichkeit sondern diese bleibt auch für längere Zeit als bei Männer bestehen. Die Forscher vermuten, dass Männer somit besser die körpereigene Schmerzhemmung aktivieren können. Dies könnte erklären, warum Frauen mehr von Schmerzen betroffen sind und Schmerzen bei Ihnen deutlich eher in einen chronischen Zustand übergehen. 
Warum aber haben Frauen diese „erhöhte Schmerzempfänglichkeit („Vulnerabilität“)? Eine Idee ist, dass bei Frauen der Schutz vor Schmerz und Schmerzchronifizierung nur „schlummert“, aber durch besondere Situationen aktivierbar ist. Eine der wichtigsten „Schalter“ für eine solche Aktivierung ist die Schwangerschaft, bei der plötzlich Frauen ähnlich wie Männer „unsensibler“ für Schmerzreize werden. Hormone wie Östrogen oder Progesteron haben einen Einfluss auf die Schmerzempfindlichkeit und die Schmerzverarbeitung. So ist z.B. die Migräne eine typische Erkrankung des weiblichen Geschlechts im gebärfähigen Alter. Hormonveränderungen in der Schwangerschaft führen dagegen eher zu einer Unempfindlichkeit gegenüber Schmerzen. Das gesamte Nervensystem der Frau wäre damit hormon-gesteuert darauf ausgerichtet, die Frau maximal vor Schmerzen unter der Schwangerschaft und Geburt zu bewahren, während in der „schwangerschaftsfreien“ Zeit diese Hemmung von Schmerzen nicht notwendig erscheint, keinen Überlebensvorteil gebracht hat und damit nicht aufrechterhalten werden muss. Diese Zusammenhänge gilt es allerdings in der Zukunft noch genau zu untersuchen.

Hormone sind aber wahrscheinlich nur ein Baustein, der Geschlechterunterschiede bei Schmerzen erklären kann. Erforscht werden auch genetische Faktoren. 
Eines der bekanntesten Beispiele für einen genetischen Zusammenhang sind das unterschiedliche Ansprechen auf bestimmte hemmende Wirkstoffe bei Frauen mit rotem Haar und blasser Haut. Beide, Frauen und Männer mit diesen äußeren Merkmalen, weisen eine bestimmte (gleiche) Genvariante auf; aber nur bei Frauen hat dies eine Bedeutung für den Schmerz, obwohl dieses Gen nicht auf einem Geschlechtschromosom liegt. 
Nicht unerwähnt bleiben sollte ein bisher viel zu wenig beachteter Effekt, der in der gesamten Medizin, aber auch speziell beim Schmerz eine Rolle spielt, die Verzerrungen von Forschungsergebnisse durch eine mangelnde Berücksichtigung geschlechtspezifischer Unterschiede („gender bias“). Bis 1988 wurden die meisten pharmakologischen Tests ausschließlich an Männern durchgeführt; dies ist deutlich einfacher, da man bei Frauen immer eine Schwangerschaft ausschließen und mögliche Einflüsse wie Hormonschwankungen in Betracht ziehen muss. Dies steht im Gegensatz zum Medikamentenverbrauch, der bei Frauen deutlich höher ist. Ähnliches gilt für Untersuchungen, in denen es um diagnostische, vorbeugende und therapeutische Maßnahmen ging. Die Ergebnisse wurden und werden auch heute noch teilweise auf Frauen übertragen. Dies kann zur Folge haben, dass Frauen falsche Dosierungen oder auch das für ihr Geschlecht per se weniger geeignete Medikament bekommen. Bei einigen Schmerzmitteln konnten nämlich in jüngerer Zeit Unterschiede in der Wirkung zwischen Frauen und Männern gezeigt werden; sogar gegensätzliche Effekte sind möglich. Deswegen gab 1993 das amerikanische Institut für Gesundheit (NIH) in den USA eine verbindliche Richtlinie heraus, die besagt, dass Frauen und Minderheiten in klinische Forschung miteinbezogen werden müssen, ja vielleicht sogar in Zukunft frauenspezifische Therapien entwickelt werden müssen.
Diese ersten Erkenntnisse zu Geschlechterunterschieden zeigen sehr eindrücklich, dass sich dieses Gebiet der Schmerztherapie noch in den Kinderschuhen befindet. Frauen und Männer scheinen (biologisch als auch soziokulturell bedingt) eine unterschiedliche Schmerzempfindlichkeit zu haben; diese Unterschiede haben wahrscheinlich neben der Erklärung dafür, warum Frauen eher unter chronischen Schmerzen leiden, auch praktische Bedeutung in allen Bereichen der Schmerztherapie von der Krankheitsverhinderung (Prävention), über die Diagnosestellung hin bis zur Behandlung der Patienten. 

Autorin: Esther Pogatzki-Zahn