DEUTSCHE GESELLSCHAFT FÜR PSYCHOLOGISCHE SCHMERZTHERAPIE UND -FORSCHUNG E.V.

Mit Schmerzen gut leben

Auch ein Leben mit Schmerzen kann ein lebenswertes Leben sein 
Ich tue mich sehr schwer damit, meine Geschichte zu Papier zu bringen. Einerseits, weil sie mir selbst heute noch nicht real vorkommt, andererseits weil ich mir manchmal wünsche, dass sie gar nicht wahr wäre. Mittlerweile aber kann ich die Situation besser akzeptieren als noch vor ein paar Jahren und bin nun auch bereit gerne darüber zu berichten, um meine Erfahrungen zu teilen und eventuell anderen Menschen damit helfen zu können. 
Ich bin eine ganz junge Schmerzpatientin und zwar erst Mitte 30. Trotzdem hat es mich hart getroffen, wenn ich die anderen Menschen sehe, die mit mir zusammen die Therapien durchlaufen. Ich bin neidisch und deprimiert. „Warum geht es mir nicht auch so gut wie denen?“ „Warum sind die doppelt so alt wie ich und können dies und das noch und ich nicht mehr?“ Genau das ist es, was es mir lange so schwer gemacht hat, die Krankheit anzunehmen. Ich habe mich jahrelang dagegen gewehrt und wollte sie nicht wahrhaben. Ich bin von Arzt zu Arzt gelaufen, immer in der Hoffnung, es würde einen geben, der mir sagen würde, es sei alles nicht so schlimm und es würde eines Tages wieder besser werden. Diesen Arzt gab es jedoch nicht. Mittlerweile habe ich die Suche nach ihm auch aufgegeben und eingesehen, dass es besser ist, meine Zeit und Kraft in die tägliche Lebensbewältigung zu stecken. Trotzdem musste ich diesen Weg gehen, um dazu zu lernen und um da zu sein, wo ich heute bin. Ich habe die Krankheitsfolgen jetzt angenommen, kämpfe nicht mehr gegen sie an, sträube mich nicht mehr gegen sie, sehe sie als ein Teil von mir, und genau seit diesem Zeitpunkt habe ich mir die Chance gegeben, dass mein Leben wieder besser werden kann. 

Meine Krankheitsgeschichte ist lang und sehr komplex und ich versuche sie daher hier kurz zusammen zu fassen, damit man den Verlauf nachvollziehen kann. 

Ich leide, seitdem ich denken kann, an einer schweren chronischen Essstörung und zwar an atypischer, restriktiver Anorexia nervosa, einer Art der Magersucht. Warum es mich getroffen hat, kann ich bis heute nicht beantworten. Ich habe mein Leben lang dagegen angekämpft, war in etlichen psychosomatischen und internistischen Kliniken. Es gibt Jahre in meiner Biographie, in denen ich mehr im Krankenhaus als zu Hause war. Diese Krankheit hat mich meine ganze Kindheit und meine ganze Jugend begleitet. Sie hat mich einsam werden lassen und mir mein Leben sehr schwer gemacht. Trotzdem habe ich niemals den Mut verloren, immer weiter gekämpft und konnte daher auch ein einigermaßen normales Leben mit ihr führen. Es ging mir oft schlecht und ich war oft schwach, aber ich habe es nie gezeigt. Ich habe das Abitur gemacht, eine Ausbildung bei einer großen renommierten Firma abgeschlossen, habe zwei Fortbildungen im Bereich Sprachen absolviert und all dies mit Bestnoten. Ich war im Ausland, ich habe angefangen zu studieren, ich war erfolgreich auf ganzer Linie. Ich war gut im Sport, hatte viele Hobbys, war angesehen im Berufsleben, konnte gut mit Menschen umgehen, so schien es zumindest. Doch das täuschte. Nach außen wirkte ich stark und unbesiegbar, aber innen war ich zerbrechlich, verletzlich und schwach. Ich lebte lange hinter dieser Fassade, deren Aufrechterhaltung unheimlich viel Kraft kostete. 
Im Frühjahr 2011 war es dann soweit, mein Immunsystem brach nach einer längeren Auslandsreise zusammen. Ich bekam eine schwere Infektionskrankheit der Lunge, die zu einer Kachexie führte, einer krankhaften Auszehrung des ganzen Körpers, die mich auf 25 Kilo abmagern ließ und die mich beinahe mein Leben gekostet hätte. Ich lag damit Monate lang im Krankenhaus. Ich wurde künstlich über die Vene ernährt, beatmet, im Rollstuhl gefahren oder getragen. Gehen war kaum mehr möglich. Ich konnte meinen Kopf nicht mehr selbstständig anheben, wenn ich im Bett lag, ich konnte keine Treppe mehr steigen, weil meine Beine durch die fehlende Muskulatur zu schwach waren, ich konnte nicht mehr ausschnauben, weil mir die Atemmuskulatur fehlte. Ich war so unendlich erschöpft. Ich schaffte einen halben Tag liegend im Bett und dann musste ich wieder schlafen und mich ausruhen. Ich wurde gewaschen und gepflegt wie eine alte Frau. Es fühlte sich erbärmlich an, war ich doch zu dem Zeitpunkt gerade mal erst 27 Jahre alt. Ich hatte literweise Wasser in den Füßen durch Eiweißmangel, die Haut riss ein. Ich fühlte mich so hilflos und habe quasi dabei zusehen müssen, wie mein Körper mir wegstirbt. Ich habe letztendlich doch überlebt. Und darauf bin ich heute stolz. Das schafft nicht jeder. Ich bekam etliche Monate starke Antibiotika, die mir das Leben gerettet haben, aber danach war nichts mehr wie vorher. 
Diese Erkrankung hat mich komplett aus dem Leben gerissen. Von halbwegs gesund und fest im Leben stehend zu todkrank und schwerbehindert. So richtig komme ich da manchmal auch noch nicht hinterher, obwohl das nun schon einige Jahre zurück liegt. Aber so war es leider. Wer einmal so eine schwere Kachexie überlebt, hat hinterher kein normales Leben mehr. Das war mir leider lange Zeit auch nicht wirklich bewusst oder ich wollte es aus Selbstschutz einfach nicht wahrhaben. 

Nun bin ich auch noch Schmerzpatientin: Die Schmerzen begannen schleichend. In erster Linie präsentierten sie sich als drückende, dumpfe, bohrende, durchdringende, am Anfang schlecht zu lokalisierende Knochenschmerzen, vornehmlich in den Knien, im Rücken, in den Kiefergelenken und in den Sprunggelenken. Er stellte sich schnell heraus, dass mein Skelett, respektive meine Knochen, durch die schwere Kachexie einen schwerwiegenden, unveränderlichen Schaden davon getragen hatten. Bildlich konnte man das wunderbar im MRT sehen, was es eigentlich noch viel schlimmer machte, denn ständig schob man mich nun „in die Röhre“. Die Ärzte waren beeindruckt von den weiß leuchtenden Knochen, die man überall fand. Einordnen konnte das jedoch keiner so recht und somit wurde ich 3 Monate auf Unterarmgehstützen gestellt und mit den Bildern von Arzt zu Arzt geschickt, bis ich letztendlich in der Uniklinik landete, wo man meine Knochenstoffwechselerkrankung das erste Mal etwas besser einordnen konnte und wo ich heute noch in Behandlung bin. Mir machte diese Odyssee und diese Unwissenheit der Ärzte noch mehr Angst. Diese Panik übertrug sich regelrecht auf mich. Psychisch war das alle sehr belastend, aber ich sah letztendlich ein, warum das alles auch sehr wichtig war. Man wollte mir ja wirklich nur helfen und versuchen, dass ich wieder auf die Beine komme. Eigentlich ist es ja klar und logisch auch nachzuvollziehen, dass der Körper an jegliche Restsubstanz ran geht, und somit auch an die Knochen, um das Überleben des Organismus in so einem lebensbedrohlichen Zustand zu sichern und das Gehirn weiterhin mit Energie zu versorgen, koste es, was es wolle. Genau der Mechanismus, der meinen Knochen so geschadet hat, hat dafür gesorgt, dass ich heute überhaupt noch lebe. So muss ich es sehen. Mit den Jahren chronifizierten sich die Schmerzen immer mehr und wurden leider auch immer schlimmer, unerträglicher und zeitweise ganz schwer für mich zu kontrollieren. Es gab Phasen, da habe ich mich nur noch gequält, hatte absolut keine Kontrolle mehr über das, was passierte, und fand das Leben nicht mehr lebenswert. Leider wurde ich zu dem unkontrollierbare, starke Schmerzen ein anderes Bild präsentieren sollte, sehr schnell reagieren. Man sieht, wenn es mir nicht mehr gut geht, ich alleine überfordert bin und mehr Hilfe brauche, als man mir ambulant bieten kann. Das gibt mir Sicherheit. Keiner dieser Menschen macht mir irgendwelche Vorwürfe, alle stehen mir bei, obwohl jeder weiß, dass meine Erkrankung nicht heilbar ist und auch nie wieder besser werden wird, eher im Gegenteil. 

Meiner Psyche macht das nach wie vor alles immer noch sehr zu schaffen. Das lässt sich nicht abstreiten. Ich bin trotz großer Bemühungen immer noch sehr einsam, denn meine Altersgenossen die mit Kindern, Hochzeit und Hausbau mitten im Leben stehen und gerade anfangen, richtig durchzustarten, können mit Schmerzen leider nicht viel anfangen und distanzieren sich lieber davon, was auch verständlich ist. Wer will schon etwas mit Schmerzen zu tun haben? Oder mit Menschen, die leiden und sich quälen müssen? Mit Menschen, die Schmerzmittel nehmen, die andere Patienten bekommen kurz bevor sie sterben. Ich wünsche mir mehr Aufklärung, besonders unter den jungen Menschen in Bezug auf chronische Schmerzen und deren Umgang und Behandlung. Ich wünsche mir mehr Toleranz für Menschen, die anders sind und nicht der Norm entsprechen. 
Ich kann heute trotzdem sagen, dass ich einen Weg für mich gefunden habe, mit den Schmerzen einigermaßen „gut“ leben zu können. Ich konnte durch ganz viel Hilfe und ein tolles Netzwerk wieder mehr Lebensqualität gewinnen. Ich kann heute stolz sagen: Ich bin meinen Weg gegangen und habe trotz dieser schlimmen Erfahrungen, die ich in jungen Jahren schon machen musste, nie aufgegeben und immer weiter gekämpft. Ich habe meinen persönlichen Weg gefunden, auch wenn es viele Jahre gedauert hat, ich viele Umwege nehmen, viele schlechte Erfahrungen sammeln und ganz viel externe Hilfe in Anspruch nehmen musste. Ich habe wieder so etwas wie Lebensfreude, ich kann wieder etwas mehr am Leben teilnehmen, ich lebe wieder einen Alltag und ich habe wieder neue, andere Ziele im Leben für mich entdeckt. Ich studiere wieder, allerdings im Fernstudium, und ich habe einen neuen, kleinen, bescheidenen, wenn auch älteren und somit weiseren Freundeskreis. 

Auch ein Leben mit Schmerzen kann ein wertvolles und lebenswertes Leben sein. Dies zu denken musste ich mir aber selbst erst gestatten. 
Mit meiner kleinen Geschichte möchte ich anderen Schmerzpatienten, besonders den jungen, Mut machen. Auch wenn es manchmal alles hoffnungslos sein mag, scheint es doch immer weiter zu gehen. Entwicklung findet ständig statt und genau das ist es, was mir Hoffnung gibt. Man weiß nie, was das Leben noch für einen bereit hält. Ich konnte in der schweren Zeit, viel über mich lernen und habe das Gefühl, dass ich jetzt erst verstanden habe, wer ich überhaupt bin. Heute weiß ich, das Leben definitiv mehr zu schätzen als früher und mein Weg, auch wenn er so beschwerlich war, hat mich reif gemacht. Ich bin weiter als andere Menschen in meinem Alter, einfach weil ich viel erleben durfte und gesehen habe. Daran wächst man. 
Eine Schmerzpatientin 

Autorin: Eine Schmerzpatientin

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