DEUTSCHE GESELLSCHAFT FÜR PSYCHOLOGISCHE SCHMERZTHERAPIE UND -FORSCHUNG E.V.

SCHMERZPSYCHOTHERAPIE AUS TIEFENPSYCHOLOGISCHER SICHT

Neben der Verhaltenstherapie gibt es ein weiteres von den Krankenkassen genehmigtes Behandlungsverfahren, dass unter der Bezeichnung  „tiefenpsychologisch-fundierte Psychotherapie“ geführt wird und zu den Methoden gehört, die unter dem Oberbegriff „Psychodynamische Psychotherapie“ fallen. 
Die tiefenpsychologisch-fundierte Psychotherapie (offizielle Abkürzung „TP“) beruht auf den theoretischen Grundlagen der Psychoanalyse, die von Siegmund Freud begründet und dann weiterentwickelt wurde. Tiefenpsychologie verweist u.a. auf die unbewussten, verdrängten bzw. unverarbeiteten Konflikte aus der Vergangenheit, deren fortdauernder Einfluss sich heute noch auf unser Erleben negativ auswirken kann.
Im Mittelpunkt der tiefenpsychologischen Behandlung stehen:

Das Unbewusste: Wie gesagt, geht man in der TP davon aus, dass es neben dem bewusst zugänglichen Teil unserer Seele auch Teile gibt, die uns nicht bewusst sind, die aber dennoch wirksam sind und Einfluss auf unser inneres Erleben und unser äußeres Handeln haben. Die Behandlung zielt darauf ab, einen Teil dieses Unbewussten erkennbar zu machen, um dem Patienten eine bessere Erkenntnis und Befriedigung seiner Bedürfnisse zu ermöglichen.

Die Beziehungsgestaltung (Übertragung): Eine bestimmte Art und Weise der Kontaktaufnahme zu anderen Menschen und deren Bewertung  ist typisch für jeden von uns. Wir entwickeln in unserer Kindheit "Beziehungsmuster"  durch die Auseinandersetzung mit unseren Eltern und/oder anderen wichtigen Bezugspersonen und neigen dazu, Beziehungen, die wir in unserem späteren Leben zu weiteren Menschen aufnehmen, nach den gleichen Mustern zu organisieren. In der Therapie wird versucht, diese Muster zu erkennen und bewusst zu machen, um eine größere Variationsbreite des Verhaltens zu ermöglichen und zu verhindern, dass man immer wieder die gleichen Konflikte erlebt. Die Wurzel des Verhaltensmusters liegt also in der Kindheit, der belastenden Konflikt hingegen in der Gegenwart.

Die Kindheit: Die Entwicklung in der Kindheit und Jugend gilt als bestimmend für die spätere Persönlichkeit. Somit werden auch die Ursachen für tiefe psychische Krisen im Erwachsenenalter zumeist in der frühen Kindheit gesehen. In der Therapie wird also nicht nur das aktuelle Krankheitsgeschehen angeschaut sondern die gesamte Lebensgeschichte. Viele sind verwundert, wenn der Therapeut bei gegenwärtigen Schmerzen sogar nach den Geburtsumständen fragt. Aber Wissenschaftler haben festgestellt, dass frühste Erfahrungen mit Schmerzen, die Gehirnreaktion auf Schmerzen verstärkt. Auch bei Frühgeborenen wurde diese erhöhte „Schmerz-Sensibilität“ bis ins Erwachsenenalter festgestellt.

Der Gefühlsausdruck: Menschen können Gefühle zurückhalten, unterdrücken oder ganz verdrängen, z.B. dann, wenn der Mensch versucht, angesichts von starker Trauer oder Wut, das „Gesicht zu wahren“. Gezeigte oder unterdrückte Gefühle gehen immer mit einer innerer Erregung und muskulären Anspannung einher, man spricht auch von „psycho-vegetativer Erregung“. Je heftiger nun das „unterdrückte“ Gefühl ist, desto stärker ist die körperliche Reaktion wie z.B. die schmerzhaften Schluckbeschwerden beim Zurückhalten der Trauer auf einer Beerdigung. Diese vegetativen Vorgänge können so stark sein, dass sie entweder ehemals körperliche Schmerzen verstärkend überlagern oder sich eigenständige, psychisch bedingte Schmerzen entwickeln, für die der Arzt dann keine körperliche Erklärung findet.

Bei der Behandlung von chronischen Schmerzen steht, wie bei allen anderen Verfahren, zunächst die diagnostische Klärung im Vordergrund. Zwei wichtige Voraussetzungen für diese vertrauliche Zusammenarbeit sind, dass der Patient sich mit seinen Schmerzen ernst genommen fühlt und dass er zu einer Betrachtung seiner chronischen Schmerzen unter „bio-psycho-sozialen“ Gesichtspunkten bereit ist. Diese „ganzheitliche“ Betrachtung („Körper-Geist-Seele“) einer Schmerzkrankheit versteht sich nicht als letztes Mittel, wenn nichts anderes mehr hilft, sondern ist eine wichtige Ergänzung körperlicher Untersuchungen. Es kann deshalb notwendig sein, dass der Therapie eine „Informationsphase“ vorgeschaltet wird, um zunächst die bio-psycho-sozialen Zusammenhänge von Schmerzen nachvollziehbar zu machen.
An dieser Stelle sei auf die Kapitel „Akuter und chronischer Schmerz“ und  „Schmerz und Psyche“ hingewiesen!!
Bei der diagnostischen Klärung wird geschaut, ob es einen zeitlichen Zusammenhang zwischen dem Beginn der Schmerzen und einem lebensgeschichtlich bedeutsamen Ereignis oder Lebensabschnitt gibt (u.a. Todesfall, Kündigung, Scheidung, Hausbau, Pflegefall).
Für die tiefenpsychologisch orientierte Diagnostik ist auch wichtig, ob es in den Entwicklungsphasen von Kindheit und Jugend Hinweise auf Überforderungen, Ängste oder Depressionen gibt, da sie eine spätere Chronifizierung von Schmerzen begünstigen können oder sogar die Ursache einer psycho-somatischen Schmerzkrankheit sind. Hinweise sind z.B. ein geringes Geborgenheitsgefühl in Kindheit und Jugend, Misshandlung oder Abwertungen durch die Eltern, sexueller Missbrauch, häufiger Streit zwischen den Eltern, überhaupt Erlebnisse, die der Mensch aus seiner Sicht als körperliches und/oder seelisches „Trauma“ (z.B. Vernichtungsangst bei Überfällen) erlebte. 
Darüber hinaus wird geprüft, ob lang anhaltender körperlicher, psychischer oder sozialer Stress der letzten Jahre oder Monate für die Aufrechterhaltung von Schmerzen verantwortlich ist. Aus diesem Grunde achtet der Therapeut besonders auf „ schwelende“ Konflikte in Beruf oder Familie, auf „überspielte“ Kränkungen und „verleugnete“ (Selbst-) Überforderung.

Nur die diagnostische Klärung gibt der Therapie eine Richtung. Die anschließende Therapie kann dann zwei Richtungen einschlagen. Entweder den „aufdeckenden“ Weg, bei dem versucht wird, verdrängtes Erleben und die damit verbundenen belastenden Gefühle bewusst zu machen, um sie einer bewussten Verarbeiten zuzuführen, sodass der Mensch dies als „tiefe Entlastung“ erlebt, sich besser akzeptieren kann und Verhaltensalternativen findet, um sich anders als durch Schmerz z.B. vor Überforderung zu schützen. 
Der zweite Weg ist ein bewältigungsorientiertes Vorgehen, bei dem versucht wird, im Hier und Jetzt Möglichkeiten zu finden, von seinem Schmerz nicht vereinnahmt zu werden und dennoch ein aktives, zufrieden stellendes Leben zu führen. Dazu gehört eine gewisse Änderungsbereitschaft z.B. hinsichtlich der realistischen Einschätzung eigener Leitungsfähigkeit und Grenzen („Grenzen zu haben ist menschlich, manchmal erkennen wir sie zuerst an unserem Körperschmerz“).

Die Behandlung kann in Einzelgesprächen oder in Gruppen erfolgen. Viele Patienten können sich zunächst nicht vorstellen, einem oder mehreren fremden Menschen gegenüber, offen von ihrer Lebensgeschichte zu erzählen. Doch im Verlauf bestätigten viele, wie gut es tat, sich jemanden, der nicht zur Familie gehört, anzuvertrauen und durch die Gruppe zu erfahren, dass man „mit seinem Problem nicht allein ist“. 

Autor: Hans-Günter Nobis