SCHMERZ UND PSYCHE
SCHMERZ UND PSYCHE
Menschen mit lang anhaltenden Schmerzen berichten von den unterschiedlichsten Lebenssituationen. Da waren z.B. eine 52 jährige Schmerzpatientin, deren „hartnäckige“ Rückenschmerzen zeitgleich mit schwerwiegenden Konflikten auftraten, die sie mit ihrem Vorgesetzten hatte; eine kaufmännische Angestellte, die nach einem Autounfall nur leicht verletzt wurde, aber auch noch Jahre danach, ungeachtet der längst erfolgten körperlichen Heilung, unter starken Schmerzen litt; ebenso ein Industrie-Facharbeiter, der schon über Jahre unter Rückenschmerzen und depressiven Stimmungen litt, die sich im Verlauf von Konflikten in der Familie und einer ihm verweigerten Aufstiegsförderung in der Firma so verstärkt hatten, dass er sich eine Rückkehr an den Arbeitsplatz nicht mehr vorstellen konnte. Und schließlich wurde einer berufstätigen Ehefrau bewusst, dass sie ihre „unerklärlichen“ Rückenschmerzen seit jener Zeit hat, in der ihr Ehemann frühpensioniert wurde und nun „unglücklich, gereizt und ziellos zu Hause herumhängen würde“.
Hätten Sie gedacht, dass deren ständige Schmerzen auch mit psycho-sozialen Belastungen zu tun haben könnten?
Vermutlich würden diese Schmerzkranken auf den Rat eines Arztes hin, doch auch psycho-soziale Hintergründe als Auslöser mit einzubeziehen, so oder so ähnlich reagieren: „Meinen Sie, ich bilde mir die Schmerzen nur ein?“.
WIE VIEL „PSYCHE“ STECKT EIGENTLICH IN EINEM SCHMERZ?
Experten unterscheiden zwei Schmerzarten – den akuten Schmerz und den chronischen Schmerz.
Zunächst zum akuten Schmerz:
Diejenigen von Ihnen, die Kinder haben, werden sich erinnern, dass wenn ein Kind gestürzt ist, dieses zumeist schmerzerfüllt zur Mutter läuft. Wenn es dann ein Eis zum Trost bekommt, kann es sein, dass es sogar kurz aufhört zu weinen, bevor es den Schmerz etwas später wieder stärker empfindet. Dies bedeutet, dass unsere Aufmerksamkeit so stark vom akuten Schmerz abgelenkt werden kann, dass wir ihn sogar zeitweise nicht mehr wahrnehmen. Auch die Schmerztoleranz kann durch eine „innere“ Bewertung beeinflusst werden. So kann die ärztliche Zusicherung bei einer brustamputierten Frau, dass ihre Schmerzen kein Zeichen für eine erneute Krebserkrankung seien, sie nicht anhaltend beruhigen. Die Angst, der vorhandene Schmerz sei ein Symptom der Erkrankung, kann stärker werden und dazu führen, dass sie auch den Schmerz zunehmend stärker empfindet.
Aufmerksamkeit, Gedanken und Gefühle können unser Schmerzempfinden, auch bei akuten Schmerzen, verstärken oder schwächen.
DIESE PSYCHO-SOZIALEN EINFLÜSSE AUF DAS SCHMERZERLEBEN SIND NOCH BEDEUTENDER, WENN WIR ES MIT „CHRONISCHEN SCHMERZEN“ ZU TUN HABEN!
Viele Menschen sind „überzeugt“, dass bei längeren, starken Schmerzen doch etwas „kaputt“ sein müsste. In der Regel ist die erste Anlaufstelle z.B. bei Rückenschmerzen der Arzt für Orthopädie oder Neurologie. Wenn aber diese Fachleute keine Schädigung feststellen können, dann hat der Schmerzkranke vermutlich erstmals die Sorge, „man könne ihm die Schmerzen nicht glauben“.
Doch es gibt weitere Möglichkeiten für die Entstehung lang anhaltender, heftigster Schmerzen. Die häufigste Ursache, da sind sich die Experten einig, sind eine Kombination von lang anhaltenden körperlichen, „seelischen“ und sozialen Belastungen. Für über 80 % aller Rückenschmerzen sind so genannte Funktionsstörungen verantwortlich, sie werden durch bio-psycho-sozialen Dauerstress verursacht.
WAS BEWIRKT DER STRESS IM KÖRPER UND WIE BEGÜNSTIGT ER DIE ENTSTEHUNG VON SCHMERZEN?
Im menschlichen Gehirn gibt es eine sog. „Stress-Alarmanlage“. Erst wenn diese ausgelöst wird, kommt es im Körper zu Stressreaktionen. Diese Alarmanlage hat bei der Geburt eine „Grundeinstellung“. Dies bedeutet, dass sie in der Regel nur in (lebens-)bedrohlichen Situationen aktiv wird. Im Laufe der frühen Lebensjahre können allerdings belastende Erlebnisse die Empfindlichkeit dieser Alarmanlage erhöhen. Dazu gehören u a. Unfälle, Krankheiten, körperliche, soziale und psychische Überforderungen, was oft bei der Ursachensuche vernachlässig wird. Eine Patientin sagte: „Meine Mutter starb, als ich sechs Jahre alt war, davon habe ich nicht viel mitbekommen. Aber jetzt, als vor fünf Jahren meine Schwester starb, war das viel schlimmer.“ Wir glauben häufig, dass schlimme Erlebnisse in der Vergangenheit heute keine Auswirkungen mehr haben - das Gegenteil ist der Fall. Wir wissen heute, wie sehr die jetzige Stressanfälligkeit/Stressbereitschaft auf belastende Erlebnisse in Kindheit und Jugend zurückgeführt werden kann.
Wenn sich die „Alarmanlage“ aktiviert, kommt es im Körper zu vielerlei Reaktionen:
U.a. werden körperliche Empfindungen wie z.B. Schmerzen, Verspannungen, aber auch Gefühle während der stressigen Zeit stark gedämpft.
Viele Menschen in Haushalt und Beruf bemerken plötzlich Blutspuren oder blaue Flecke an ihrem Körper und fragen sich verwundert, woher sie diese haben.
Wann spürt ein Mensch die Folgen seines Stresses?
„Wenn der Mensch zur Ruhe kommt!“ Die Menschen sagen dann voller Enttäuschung: „Endlich hatte ich die großen Belastungen gemeistert - gerade wollte ich anfangen mich auszuruhen, da kamen die Beschwerden“. Häufig erfolgen diese stressbedingten, zumeist körperlichen „Beschwerden“ nach Todesfällen, langen und schwerwiegenden Konflikten in Ehe und Familie, nach Über- oder Unterforderungen am Arbeitsplatz und bei Mehrfachbelastungen durch eine Berufstätigkeit mit gleichzeitiger Verantwortung für Kindern, Haushalt und nahen Angehörigen.
Macht Stress immer krank? Stress macht immer dann krank, wenn mehr Stress in das „Fass hineinläuft“, als „unten ablaufen“ kann. Der Mensch sagt dann gewöhnlich, „mir steht es bis zum Hals“. Dann macht Stress krank, auch wenn sich der Stress aus positiven und negativen Belastungen zusammensetzt. Die Stressfolgen können sich dann auch in Form von Schmerzen bemerkbar machen. Es muss nicht ein einzelnes Lebensdrama vorausgegangen sein, besonders „schwelende“ Konflikte in Beruf und Familie, „überspielte“ Kränkungen, „verleugnete Überforderung“, aber auch „Selbstüberforderung“ können eine Schmerz auslösende Wirkung haben.
Stellen Sie sich also vor, es kommt zu einer längeren körperlichen, psychischen („seelischen“) und/oder sozialen Überbelastung/Überforderung. Diese löst die Stressalarmanlage aus. U. a. spannen sich alle Muskeln an. Diese Anspannung wird häufig nicht wahrgenommen. Muskeln, die dauergespannt sind, haben die Tendenz sich zu verkürzen und zu verhärten. Vielleicht nimmt man zunächst eine Art von Bewegungseinschränkung wahr. Man fühlt sich häufiger und schneller erschöpft. Man beginnt, an seiner Leistungsfähigkeit zu zweifeln.
Wie kann man sich diese fortschreitende Erschöpfung erklären? Bei der Messung von Aktivierung in der Muskulatur entspannter Menschen zeigten Untersuchungen, dass bei einem einfachen Händegruß ca. 60 Muskelabschnitte „arbeiten“. Menschen, die verspannt und im Stress sind, aktivierten bei diesem Händeschütteln ein Vielfaches an Muskelabschnitten. Diese Überaktivierung und Verspannung, besonders der Tiefenmuskulatur, findet sich dann nicht nur bei vielen anderen Tätigkeiten, sondern auch dann, wenn wir uns ausruhen. Diese vielfache Menge an „Muskelarbeit“ bedeutet auch die vielfache Menge an Energieverbrauch.
Nach einer Phase von schneller Erschöpfbarkeit kommt es dann zu den ersten Schmerzen zumeist in Folge einer körperlichen Überanstrengung oder auch nach „harmlosen“ Stürzen oder Unfällen, entweder an den Muskeln oder Sehnenansätzen oder an der Knochenhaut. Die durch dauernde Anspannungen auf den Körper wirkenden Zugkräfte verändern das Gewebe und verursachen z.B. Schwellungen bzw. Mikroentzündungen – es kommt zum sog. „Weichteilschmerz“.
Dieser „Weichteilschmerz“ ist immer noch ein Akut-Schmerz, steht aber in einem engen Zusammenhang mit unserer psycho-sozialen Gesamtbelastung.
WIE WIRD AUS DIESEM AKUT-SCHMERZ NUN EIN CHRONISCHER SCHMERZ?
Der Schmerz selbst erhöht zusätzlich die bestehende Muskelverspannung. Die Bewegungseinschränkung werden größer, die Erschöpfbarkeit nimmt weiter zu, die Schmerzintensität steigt und damit auch wiederum die Muskelspannung. Die durch den Schmerz verursachten Einschränkungen im täglichen Leben verstärken Frustration und Ärger, Angst und Zweifel, Mutlosigkeit oder „heldenhaftes“ Durchhalten. Diese Gefühlsstimmungen verstärken den „inneren“ Stress. Der Mensch gerät in einen sich ständig selbst verstärkenden „Teufelskreis“. In dieser Übergangsphase wird aus dem Akut-Schmerz oft ein „Dauerschmerz“. Durch den Dauerschmerz werden die für den Schmerz zuständigen Nerven im Gehirn in ihrer Empfindlichkeit gesteigert. Es reicht dann oft schon eine geringe Anspannung aus, um einen Schmerz auszulösen.
Experten sprechen an dieser Stelle von der Bildung eines „Schmerzgedächtnisses“. Der ehemalige Akut-Schmerz verliert hier auch seine unmittelbare „Alarm-Funktion“ und der Schmerzkranke befindet sich in der Phase der „Chronifizierung“.
Manche Schmerzkranke reagieren auf Grund mangelnder Behandlungserfolge mit einem sozialen und beruflichen Rückzug. Aus Angst vor einer Verschlimmerung der Schmerzen entwickelt sich bei vielen Patienten eine „Schonhaltung“, was den körperlichen Zustand oft weiter verschlechtert. Nicht selten trauen sich diese resignierten Menschen, besonders nach längeren Fehlzeiten, nicht mehr zu, an den Arbeitsplatz zurück zu kehren. Aus diesem Rückzug entstehen dann weitere Ängste z.B. bezüglich der finanziellen Zukunft. Was traut man sich überhaupt noch zu? Dieser Selbstzweifel verbunden mit Mutlosigkeit bedeutet, dass eine „weitere Krankheit“, eine „reaktive Depression“, den Schmerzverlauf noch weiter verkomplizieren kann.
Das Gefühl von Nutzlosigkeit, Unverständnis und Nichtbeeinflussbarkeit lässt verstehen, warum diese Menschen manchmal am Lebenssinn zu zweifeln beginnen.
Wie Sie nun erfahren konnten, unterliegen chronische Schmerzen nicht nur einem körperlichen, sondern immer auch einem gefühlsmäßigen und sozialen Einfluss. Mal überwiegt die eine Seite, mal die andere Seite.
Unsere Einstellung sollte sich widerspiegeln in dem Satz: „Grenzen zu haben ist menschlich, manchmal spüren wir sie zuerst im Körper“.
Wie kann die Psyche, wie können unsere Gefühle, Schmerzen verursachen?
Experten haben festgestellt, dass sowohl bei körperlichen Verletzungen als auch bei sozialen Verlusten, z.B. wenn wir einen uns wichtigen Menschen verlieren, die gleichen Hirnregionen aktiviert werden. Der Volksmund spricht vom „schmerzhaften Verlust“ eines geliebten Menschen. Auch dieser „seelische“ Schmerz ist „echt“, aber für die Behandlung ist es sehr wichtig, festzustellen, wie sehr die Psyche am Schmerz beteiligt ist, um unwirksame Eingriffe vermeiden zu können. So wie bei dieser Patientin, die ihre beste Freundin durch Krebs verlor. In den letzten Monaten der Krankheit hat sie sich gegenüber der sterbenskranken Freundin, den Kollegen auf der Arbeit und gegenüber ihrer Familie „zusammengerissen“, d.h. die eigene Trauer und Angst nicht gezeigt. Mehrere Wochen nach der Beerdigung der Freundin klagte sie nach einem Umbau des Kinderzimmers über Rückenschmerzen. Die üblichen Behandlungen führten immer nur zu einer kurzfristigen Besserung. Die Schmerzen wurden zunehmend schlimmer. Mehrere Monate später, als sie in einer Sportgruppe am Ende der Stunde eine Entspannungsübung machte und die Trainerin ihre Hand auf den Bauch der schmerzgeplagten Frau legte, um die Entspannung zu fördern, lösten sich nun unter der tieferen Entspannung ihre „unterdrückten“ Gefühle und sie brach in Tränen aus, die nicht enden wollten. Jetzt hatte sie „losgelassen“. Wenige Tage später waren ihre Schmerzen rückläufig und verschwanden dann ganz.
Wie das?
Gefühle wie Wut, Angst oder Freunde sind auch gleichzeitig körperliche Erregungen/Spannungen. Wenn wir z.B. an einem Abend in fröhlicher Runde oft und lange herzhaft Lachen, so kann es sein, dass uns nach einer Weile die Bauchmuskeln Schmerzen.
Mehrere Bergleute bekamen wenige Wochen nach einem Grubenunglück auf der Nachbarzeche starke Nackenschmerzen. Nach vielen ärztlichen Untersuchungen viel auf, dass sie harte Nackenmuskeln hatten - ihnen „saß die Angst im Nacken“. Ängste wurden aber von ihnen verneint. Das Gefühl der Angst spürten sie nun also nur körperlich.
Menschen mit einer hohen Selbstbeherrschung, Tapferkeit und den Einstellungen, „meine Gefühle gehen keinem was an“ und „um des lieben Friedens willen sag ich nichts“, haben die Tendenz ihre Gefühle zu „unterdrücken“. Das Zurückhalten der körperlichen Erregung durch muskuläre Anspannung kann so weit führen, dass es zu Schmerzen im Körper kommt, für die der Arzt dann keine körperliche Erklärung findet.
Autor: Hans Günter Nobis